Wenn die Zeit gekommen ist...
Die folgende Geschichte ist traurig.
Sie hat kein fröhliches Ende.
Seid gefasst.
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Als die Sonne sich senkte und die Welt in ein trauriges Zwielicht
tauchte, verließ das Leben die Frau mit den letzten Strahlen
der Sonne.
Der Mann hatte in der Stube Kerzen entzündet, deren
neckisches Flackern tiefe Schatten in ihr bleiches
Gesicht warfen.
Ein Ausdruck niegeahnter Traurigkeit lag auf ihrem Gesicht.
Trauer und Resignation sprachen ihre Augen, deren
Lachen einst das Herz des Mannes erwärmt und schließlich zum
Schmelzen gebracht hatte.
Sie hatte gekämpft
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und verloren.
Ihr einst so schöänes Gesicht lag nun da, wie ein
Apfel in der Sonne. Verwelkt, ausgedorrt und einsam,
wenn sich auch nicht allein war.
Der Mann war die ganze Zeit bei ihr, obleich es ihm
sein Herz zerriss, sie so zu sehen. Sie, die nie ein Sturm
hatte umwerfen können. Die eine Nacht durchgetanzt
hatte und, nachdem die Kapelle vor Müdigkeit zum letzten
Tanze gerufen hatte, immer noch voller Übermut zu der
Musik ihres Herzschlages getanzt hatte.
Unersättlich hatten sie sich geliebt.
Oft, so schien es, nur von ihrer Liebe zehrend hatten
sie die ersten Jahre verbracht.
Dann als das Alter Einzug hielt, die Ruhe und Weisheit kam,
wie das Grau in ihren Haaren, dass sie nie versteckt hatte,
war sie noch voller Lebenslust und im inneren
immer noch das junge Mädchen, in das sich der Mann verliebt hatte.
Doch nach dem letzten Winter begann dieses Feuer des
Lebens abzuklingen und wich einer unbarmherzigen Kälte
und dem Fieber.
Er war währenddessen bei ihr gewesen. Er war
immer bei ihr.
Nie ließ er sie länger allein, als für die
wichtigsten Dinge notwendig.
Und so musste er zusehen, wie sie verfiel.
Wie der Stolz und die Schönheit sich langsam aus
ihrem Gesicht schlichen und der Kampf begann.
Sie hatte wahrlich gekämpft.
Doch es war ein aussichtsloser Krieg gewesen.
Von Anfang an.
Und sie hatte kapituliert.
Ich bin müde, hatte sie ihm gesagt, so unendlich müde.
Ich will nur noch meine Augen schließen und schlafen.
Er hatte indess nicht geschlafen.
War bei ihr geblieben.
Der Pastor war gekommen und der Mann hatte ihn verjagt.
Er war richtig wütend, ausser sich hatte er diesen aufdringlichen,
jungen Geistlichen aus seinem Haus geschäucht, der ihm weismachen
wollte, dass es zu Ende war.
Der Mann wusste dass es nicht zu Ende war.
Es konnte nicht zu Ende sein.
Es durfte nicht zu Ende sein.
Doch die Sonne verschwand und langsam nun begann der Mann
in seinem unerschütterlichen Glauben an das Leben
zu schwanken. Er saß am Bett seiner Frau, dass
sie wohl nicht mehr verlassen würde und hielt ihre Hand,
die so heiß war wie die Sonne im August.
Sie sprach nicht mehr.
Ihr Mund bewegte sich zwar noch, doch
über ihre einst so wunderschön weichen Lippen kam kein Wort.
Auch der Mann sprach nicht, als hätte er Angst
mit dem Odem seiner Worte, die feine Kerze ihres
Lebens auszuhauchen.
Die Stille umfing ihn und die ersten
Kerzuen, die nun schon ganz heruntergebrannt waren,
gingen flackernd aus.
Gern hätte er neue geholt, gern hätte er eine
Hundertschaft Kerzen angezündet um die Nacht
nicht in die Stube zu lassen, doch er wollte sie nicht
alleine lassen. Er hatte Angst davor, sie allein zu lassen.
Vom Flur her kamen Schritte den Gang entlang.
Der Mann nahm sie nicht wahr. Er hatte
seinen Kopf an ihre Schulter gelegt und kämpfte
seinen eigenen Kampf.
Gegen die Tränen.
Erst das Klopfen an der Tür ließ ihn aufhorchen.
In der Stille der Nacht schien es ihm so laut,
wie die Trommeln und Pauken einer Kriegskapelle.
Das Klopfen wiederholte sich, doch der Mann war
unfähig diesen späten Gast hereinzubitten.
Er kämpfte immer noch.
Da begannen die Lippen der Frau sich zu bewegen.
Sie formten die Wörter und hätte der Mann es nicht
selbst gehört, so hätte er es für unmöglich gehalten,
fast wie früher sprach sie, laut und deutlich.
"Komm rein, die Tür ist offen. Und wär sie s nicht,
so hielte es dich nicht auf."
Langsam öffnete sich die Tür, wie im Traum.
Ein Geruch von Moder und verrotetem Laub erfüllte
den Raum. Die Gestalt die eintrat war in schwarz gekleidet,
gleich dem ersten Trauergast einer Bestattung.
Ihr Gesicht war nicht das eines Mannes, doch auch nicht
das einer Frau.
In den Augen des Gastes verlohr sich der Betrachter,
aus ihnen schien die Ewigkeit. Es ist unmöglich
ihre Farbe zu erkennen, in allen dunklen Spektren
leuchteten sie. Seine Haut war weiß wie Alabaster und
glatt wie ein Fels in der Brandung, es war die eines Toten.
In der Hand hielt er ein Buch, alt und verschlissen von
den weiten Reisen und den unzähligen Orten an denen es
schon war.
Der Mann gebahr den Gast und verlor seinen Kampf.
Tränen flossen ihm übers Gesicht und zwangen ihn seine
Augen zu schließen. Er konnte die Gestalt nicht ansehen,
hielt nur weieter die Hände der Frau fest.
"Du weißt warum ich hier bin, Frau." sprach die
Gestalt und ihre Stimme war die des Todes.
Die Angesprochene öffnete die Augen und jede Mattheit
war aus ihnen verschwunden. Sie antwortete mit einem
Nicken.
"Ja, ich weiß es und mein Mann weiß es ebenso, wenn
er es auch nicht wahr haben will. Du bist spät."
Das Gesicht des Gastes blieb unbewegt als er sprach:
"Wir gehen, wenn die Zeit gekommen ist. Dein Mann hat sich
noch nicht verabschiedet."
So sah die Frau ihren Geliebten an, der sie so lange
treu begleitet hatte. Ihre Augen waren nicht mehr von dem
Nebel der Krankheit getrübt, sie waren so wie früher.
Klar und hell wie ein Gebirgssee.
"Ich liebe dich," sprach sie, traurig und sanft.
"Doch du musst mich gehen lassen."
Der Mann konnte nicht sprechen. Er wollte es nicht.
Die Tränen verschlossen ihm den Mund und drückten
ihm die Kehle zu.
Er versuchte etwas zu sagen, doch die Frau legte
einen Finger auf seinen Mund.
"Die Zeit der Worte ist vorüber," sagte sie.
Und sp küsste er sie.
Es war der ehrlichste Kuss.
Es war der letzte Kuss.
Der, auf den keine Küsse mehr folgen.
Der, den man nur vom Totenbett bekommt.
Den man nicht stehlen kann, der einem geschenkt werden muss.
Und mit diesem Kuss ließ er sie los und sie ging.
Der Tod öffnete ihr die Tür und wies sie nach draußen.
Der Mann blieb zurück.
Alleine.
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Coda:
Das ist eigentlich schon das Ende der Geschichte,
doch gibt es noch so etwas, wie ein
alternatives Ende, wer es lesen will, soll weiterlesen,
obgleich ich der Meinung bin, dass das obrige reicht.
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Doch bevor der Tod die Tür schloss, sprang
der Mann auf. Er lief zur Tür und flehte den Tod
an, ihn mitzunehmen.
Ihn nicht alleine zurückzulassen.
Er wäre bereit alles zu tun.
Er wäre bereit alles zu tun um mit seiner Frau gehen
zu können, koste es was es wolle.
Der Tod sah ihn an und seine Augen trafen die des Mannes.
Diese Augen, die die Ewigkeit gesehen hatten.
Augen, die kein Mensch, der sie sieht je vergesen kann.
"Wir gehen wenn die Zeit gekommen ist.
Wir gehen wenn es Zeit ist.
Du bist noch nicht soweit.
Für dich ist sie noch nicht gekommen."
Mit diesen Worten drehte der Tod sich
um und ging.
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Nachwort:
Die Geschichte fiel mir auf dem Weg nach Hause ein.
Als ich in der Straßenbahn stand, in den Tunnel
zum Bahnhof fuhr kamen mir die Worte:
"Wir gehen wenn die Zeit gekommen ist
und deine ist noch nicht gekommen."
ein.
[depressiv]
Nein, überhaupt nicht.
Ich habe die richtige Musik gehört,
habe mich mitreißen lassen und habe dann
auf dem Heimweg von Linz und während meiner
Wartezeit in Lambach die Geschichte niedergeschrieben,
die wie ich finde von tiefer Traurigkeit erzählt.
Ich mag solche Geschichten eigentlich nicht,
doch diese drängte sich mir auf und
ich hatte keine andere Wahl.
Warum?
Das weiß ich nicht.
[solche Dinge kann man nicht erklären]
Und ich will es auch nicht.
Mögt sie, oder mögt sie nicht.
Es ist mir egal.
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Irgendwann kommt für jeden der Tag
an dem man für alles bezahlt
dann stehen wir da
denken wie schön es mal war
bereuen unsere Fehler hätten gern alles anders gemacht
hätten all unsere Boshaftigkeiten niemals getan
wir leben versteckt
wischen all unsere Spuren weg
vor den anderen und vor uns selbst
damit kein Mensch jemals sieht
wer wir in Wahrheit sind
Wo ist der Ort für den ehrlichsten Kuss
ich weiß das ich ihn für uns finden muss
auf 'ner Straße im Regen
auf 'nem Berg nah beim Mond
oder kann man ihn nur vom Totenbett holen
Wo ist der Ort für einen ehrlichen Kuss
den Einzigen den ich dir noch geben muss
All denen, die uns am nächsten stehen
tun wir am liebsten weh
und die Frage warum das so ist
bleibt unser Leben lang stehen
Wann ist die Zeit für einen ehrlichen Kuss
der all unsere Lügen auslöschen muss
gib mir die Zeit für einen ehrlichen Kuss
so wollen wir uns küssen wenigstens am Schluss
es wird ein Kuss sein der alles verzeiht
der alles vergibt und uns beide befreit
du musst ihn mir schenken ich bin zwar ein Dieb
doch gestohlen ist er wertlos und dann brauch ich ihn nicht
[Die Toten Hosen - Der letzte Kuss]
(Ich weiß, dass ich den Songtext schonmal hatte, aber
das war unter anderem das Lied, dass mich zu der
Geschichte brachte.)